Die Grenze zwischen Reali­tät und Fiktion

Schirn Magazin, 27.11.17

VON JULIA SCHMITZ

Link: Schirn

Ihre Inszenierungen machen den Zuschauer zum Akteur: Ein Gespräch mit dem Performance-Kollektiv SIGNA über Immersion, Fiktion und ihr Stück „Das halbe Leid“ im Schauspiel Hamburg.

Was bedeu­tet der Begriff der „Immer­sion“ für euch und eure Arbeit?

Signa Köst­ler: Er ist für uns nicht so wich­tig. Ich würde sagen, in den Begriff „immer­si­ves Thea­ter“ wird gerade alles Mögli­che rein­ge­packt, auch vieles, was mit unse­rer Arbeit eigent­lich nichts zu tun hat. Mitt­ler­weile ist daraus ein rich­ti­ger Hype gewor­den mit all den Veran­stal­tun­gen zum Thema. Gemein­sam ist allen Auffüh­run­gen, dass sie nicht auf einer Bühne statt­fin­den, aber das heißt ja nicht, dass es sonst irgend­wel­che Paral­le­len geben muss.

Der Unter­schied zwischen „klas­si­schem Thea­ter“ und euren Projek­ten ist, dass man bei euch nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem ganzen Körper in die Insze­nie­run­gen eintaucht. Man läuft als Zuschauer durch die Kulisse und inter­agiert mit den Schau­spie­lern, eine „vierte Wand“ gibt es nicht. War das von Anfang an so gedacht?

Signa: Ja! Es hatte wohl vor allem damit zu tun, dass ich gar keinen Thea­ter­hin­ter­grund habe und Arthur [Köst­ler, Medien-Perfor­mance­künst­ler und Mitglied von SIGNA, Anm. d. Red.] auch nicht. Ich habe das Ganze nicht als Thea­ter gedacht, ich hatte nicht den Vorsatz: „Jetzt durch­bre­che ich die vierte Wand!“ Die war für mich nämlich gar nicht da, ich habe sie gar nicht mit Thea­ter in Verbin­dung gebracht. Es hat sich letzt­end­lich zu einem Thea­ter­kon­text entwi­ckelt, weil wir dort unsere Förder­gel­der bekom­men haben und mit Schau­spie­lern und Thea­ter­häu­sern zusam­men­ge­ar­bei­tet haben. Mein Ausgangs­punkt war eigent­lich eine Instal­la­tion. Ich habe Kunst­ge­schichte studiert und arbei­tete in Rich­tung Raum­in­stal­la­tion. Aber nach meinem ersten Projekt, was nicht bespielt war, habe ich gemerkt, dass ich eigent­lich immer anwe­send sein muss. Später habe ich meine Arbei­ten dann von ande­ren Figu­ren „bewoh­nen“ lassen.

Es war also eine Art Prozess von den Anfän­gen bis zum heuti­gen Stand von SIGNA?

Signa: Ja, aber ein sehr schnel­ler Prozess! Ich habe nur eine einzige „unbe­wohnte“ Instal­la­tion gemacht. Mir fehlte der Dialog und ohne ergab es keinen Sinn. Damals war die Frage wich­tig, was eine „Kunst­fi­gur“ über­haupt ist – denn eine geschrie­bene Figur mit einer eige­nen Biogra­phie ist ja trotz­dem nur eine Version von mir. Ich habe mich viel mit Alter Ego, Iden­ti­tät und der Grenze zwischen Reali­tät und Fiktion beschäf­tigt.

Spielt die Grenze zwischen Reali­tät und Fiktion jetzt eine weni­ger wich­tige Rolle?

Arthur Köst­ler: Wir haben das mehr oder weni­ger aufge­löst.

Signa: Für mich ist es noch immer ein Thema. Aber irgend­wann war ich davon über­zeugt, dass man sowieso nie genau weiß, wann etwas Reali­tät ist und wann Fiktion und dass die Gren­zen verschwim­men. Ab einem bestimm­ten Punkt war es nicht mehr wesent­lich, uns haben andere Aspekte an den Stücken mehr inter­es­siert.

Arthur: Wir haben versucht, den Fokus davon wegzu­len­ken, weil diese Grenze plötz­lich so gewich­tig gewor­den ist, als würde es nur darum gehen.

Signa: Man muss nicht ewig darüber nach­den­ken, was Fiktion und was Wirk­lich­keit ist oder "was bin ich und was ist erfun­den".

Ein wich­ti­ger Teil der Immer­sion ist der Über­gang von der realen Welt in die „Paral­lel­welt. Wie läuft das bei den Insze­nie­run­gen von SIGNA ab, insbe­son­dere, wenn diese über mehrere Tage laufen?

Signa: Das letzte Stück „Das halbe Leid“ dauert zwölf Stun­den und hat eine Kapa­zi­tät für 50 Teil­neh­mer, die alle gleich­zei­tig rein­kom­men. Jeder hat ein Bett und bleibt die komplet­ten zwölf Stun­den. Man kann es natür­lich früher abbre­chen, aber das ist eigent­lich nicht der Sinn der Insze­nie­rung. Andere Stücke dauer­ten nonstop eine oder sogar zwei Wochen und die Leute konn­ten kommen und gehen wie sie woll­ten.

Arthur: Was den Über­gang in das Stück „Das halbe Leid“ angeht, so wird den Leuten vorher gesagt, dass sie einen Kurs in einem Verein besu­chen. Sie kommen also rein und sind im Verein – niemand erklärt ihnen vorher irgend­wel­che Regeln oder ähnli­ches. Sobald die Tür aufgeht, gibt es nur mehr die Fiktion in diesen zwölf Stun­den.

Wie reagie­ren die Menschen auf diese Art von Insze­nie­rung?

Arthur: Bei den Stücken, die über mehrere Tage dauern und bei denen die Leute kommen und gehen ist es oft so, dass die Besu­cher in Charak­te­ren denken und deren Geschichte, die fort­ge­setzt wird, während sie selbst nicht dabei sind. Und dann besu­chen sie die Charak­tere, die sie über eine gewisse Zeit kennen­ge­lernt haben, erneut – und freuen sich rich­tig auf das Wieder­se­hen.

Signa: Der Über­gang bzw. das Hinein­kom­men ist bei den länge­ren Stücken natür­lich anders, weil es sich ja um eine fort­ge­setzte Entwick­lung handelt. Wenn man erst am drit­ten Tag einsteigt, hat man schon eini­ges verpasst. Aber es ist streng genom­men nicht anders, als Mitglied in einem Club zu werden – den gab es ja vorher auch schon.

Wie viel „klas­si­sches“ Publi­kum habt ihr, das eher daran gewöhnt sind, im Zuschau­er­raum zu sitzen, während das Stück auf einer Bühne aufge­führt wird?

Signa: Das ist unter­schied­lich. Bei Premie­ren haben wir oft Leute, die uns noch nicht kennen. Aber viele kommen häufi­ger und wissen schon, dass es bei uns anders läuft und von ihnen etwas erwar­tet wird.

Für die Teil­neh­mer ist es viel­leicht auch eine Möglich­keit, eine Rolle anzu­neh­men, die sie sonst nicht haben?

Signa: Jein – ist es schon, aber ich glaube, dass man ein viel besse­res Erleb­nis hat, wenn man keine Rolle annimmt, sondern es als man selbst erlebt. So, als ob man in tatsäch­lich in dieser fikti­ven Situa­tion wäre. Natür­lich weiß man, dass man in einer Insze­nie­rung ist. Es funk­tio­niert aber besser, wenn man es an das eigene „Ich“ heran­lässt. Unsere Insze­nie­run­gen ermög­li­chen, dass sich jemand genau wegen dieser verscho­be­nen Reali­tät plötz­lich anders verhält. Man kann Sachen ausspre­chen, die man sonst nicht ausspricht, man kann mit verschie­de­nen Reak­tio­nen expe­ri­men­tie­ren – weil es eben nicht die glei­che Verbind­lich­keit hat wie im echten Leben.

Was faszi­niert euch daran, sich komplett in eine andere Biogra­phie hinein­zu­den­ken und in ihr bis in die bana­len Dinge des Alltags hinein aufzu­ge­hen?

Signa: Ich habe tatsäch­lich darüber nach­ge­dacht. Ich mache das nun seit 17 Jahren, aber es ist nicht leicht zu erklä­ren.

Arthur: Es geht gar nicht so sehr darum, sich in einen Charak­ter hinein­zu­den­ken. Das Faszi­nie­rende ist eher, eine Figur zu erschaf­fen, die sich in einer Gesell­schaft bewegt und zu sehen, was auf diese Figur zukommt. Das Inter­es­sante ist nicht, was diese Figur macht, sondern was sie auslöst. Als Schau­spie­ler verlie­ren wir uns nicht in den Rollen, wir haben nicht plötz­lich alles andere verges­sen – wir sind uns sehr wohl bewusst über jeden Moment der Show: Wo sind die ande­ren Schau­spie­ler, wie muss ich jetzt reagie­ren, ergibt das Ganze ein gutes Bild. Im Ideal­fall passt alles zusam­men. Das Bild ist genauso wich­tig wie Geruch, Ton und Hand­lung, alles zusam­men muss man stän­dig produ­zie­ren. Wir sitzen auf der Figur wie auf einem Vehi­kel.

Eure Insze­nie­rung lebt von Spon­ta­nei­tät. Habt ihr dennoch einen „Fahr­plan“ für eure Auffüh­run­gen?

Arthur: Wir haben einen logis­ti­schen Fahr­plan. Wir schauen, dass in der Vorstel­lung alle Räume besetzt sind und sich nicht alle gleich­zei­tig an einem Ort aufhal­ten. Es gibt Veran­stal­tun­gen, die inner­halb von „Das halbe Leid“ statt­fin­den und auch einen Zeit­plan.

Signa: Man kann vieles planen – aber wir versu­chen Dinge, die man auch im echten Leben nicht planen kann, in der Auffüh­rung eben­falls offen zu lassen. Die Vorstel­lun­gen sind aber unter­schied­lich konzi­piert. Bei manchen Insze­nie­run­gen arbei­ten wir vorher nur an der Rahmen­ge­schichte und impro­vi­sie­ren dann. Bei ande­ren Stücken haben die Zuschauer genau 18 Minu­ten in einem Raum mit den Schau­spie­lern, bevor es in den nächs­ten geht. Man kann viel steu­ern, wenn man will – aber das will man nicht immer.

 
   
 
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