Vergiss Theater!

Falter, 24.09.08

Von Gregor Schenker

Die radikalen Theaterperformer SIGNA sind mit ihrer Amnesiestation zu Gast im steirischen herbst

Verschalungen werden von Neonlampen genommen, damit sie räudiger aussehen. Vergilbtes Linoleum ist auf den Fußboden aufgezogen. So weich, dass man darin zu versinken scheint. Fünfzigerjahre-Küchenkästen mit abgeblättertem Lack. Schläuche ragen aus der Wand und gehen ins Nirgendwo. Setdesigner Thomas Bo Nilsson wacht über die letzten Feinarbeiten bei der Herstellung des imaginären Psychiatrischen Instituts, trägt aber schon den Arztkittel. Noch riecht es nach Kleber statt nach Äther. Krankenschwestern, deren pastellblaue Kunstfaserkleider auch zu Stewardessen aus Sechzigerjahrefilmen passen würden, postieren und posieren. Militärisch und doch geborgenheitvermittelnd.

Ein Widerspruch, der Spannung erzeugt. Spannung, die im Zentrum von SIGNAs Arbeit steht, deren Ziel es ist, eine Atmosphäre zu schaffen, die zugleich unangenehm und anziehend ist. Widersprüchlich wie die portugiesische Saudade, die glücklich und doch traurig zur selben Zeit ist, ist sie hässlich und wunderschön. Bis ins kleinste Detail, fanatisch. Bis zur Unterwäsche und den Parfums, die die Schwestern tragen, wird bei der „Komplex- Nord-Methode“ eine temporäre, durchkomponierte Lebenswelt geschaffen, in die der Besucher für sechs bis 24 Stunden eintreten kann, als Amnesiepatient, der seine gewohnte Wirklichkeit verlässt. Als Zuschauer, der selbst zum Akteur wird. Für die als Ärzte, Schwestern, Patienten, permanente Bewohner dieser Welt engagierten 18 Darsteller dauert der Aufenthalt neun Tage, in einem Theater, das keinen Unterschied kennt, zwischen Bühne und Auditorium.

Jahrelang galt an Schauspielhäusern die Regel, nicht mit dem Kino und dem Fernsehen konkurrieren zu wollen. Eine Illusion auf der Bühne erzeugen zu wollen, galt als absolut tabu und wurde getrost der Leinwand und dem Bildschirm überlassen, auch dem der Computerspiele. Medien ja bitte, aber dann nur mit mindestens drei Metaebenen, Referenzsystemen und komplexen Theoriengebäuden. Und dann kam SIGNA. Seit 2004 arbeiten die dänische Performancekünstlerin Signa Sørensen und der österreichische Medienkünstler Arthur Köstler unter diesem Label zusammen. Mit einer Kompromisslosigkeit und Direktheit, die man sich nur erhalten kann, wenn man abseits der gängigen Szene seine Visionen verwirklicht, belehren sie alle eines Besseren und stellen perfekte Illusionen her. Als sie vergangenen Mai mit „Rubytown“ zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurden, hatten sie von dem höchsten Ziel eines jeden Stadttheaterdirektors noch nicht einmal gehört. So mussten sie ihr in der Kölner Halle Kalk gebautes Dorf aus Bretterbuden und Wohnwagen mit Cafés, Geschäften und Friseursalon zerlegen und mittels Sattelschleppern nach Berlin transportieren.

„Natürlich führt es zu einigen Problemen, ein Theaterpublikum zu haben, da dieses bestimmte Erwartungen hat. Der Analyseapparat in den Köpfen! Es dauert eine gewisse Zeit, den Menschen beizubringen, dass dieser Apparat in unserem Zusammenhang nicht anwendbar ist.“ Sørensen hat bei aller Schärfe der Analyse oft ein kleines Lachen in der Stimme. Nicht wirklich schelmisch, sondern eher von einer großen Lebensfreude getragen. „Das Publikum muss wissen, dass es auch aktiv sein muss, den Raum erkunden und erspüren. Der Fokus liegt nicht nur auf den Schauspielern. Aber umgekehrt kann es auch zu Problemen führen, Installationen in einem Kunstkontext zu machen, da hier das Publikum durch die Schauspieler verängstigt wird.“ Insofern trifft es sich gut, beim steirischen herbst zu Gast zu sein, da die Interdisziplinarität eigentlich die Heimat von SIGNA ist.

Sørensen beginnt ihre Arbeit an Installationen im Jahr 2001 und ist in Dänemark von Beginn an von der Theaterszene in Beschlag genommen. „Als ich begonnen habe, lag mein Hauptfokus definitiv im Gestalten der Räume. Um eine Beziehung zwischen den Räumen und dem Publikum herzustellen, aber auf eine neue Art, ließ ich sie von Menschen bewohnen.“ Köstler kommt eigentlich von der Musikperformance. Aufgewachsen in einem oberösterreichischen Dorf lernt er Friseur und Perückenmacher, um Special Effects für Zombiefilme zu machen. Der Arbeit schnell überdrüssig geworden, formiert er mit Mitgliedern der Band Fuckhead das Projekt „Pest“, geht dann der Liebe wegen nach Dänemark und bleibt dort hängen. Beginnt in Kopenhagen Kunst zu studieren, trifft schließlich Sørensen, teilt ihr Interesse an temporären Heimaten, die Fragen nach Identität, Hierarchie, Vertrauen, Verwundbarkeit aufwerfen. 

Oft wird SIGNA vorgeworfen manipulativ zu sein, doch Sørensen sieht das als Kompliment. „Manipulation ist eines unserer Hauptwerkzeuge. Wir erzeugen eine möglichst perfekte Illusion, aber binden in diese reale Elemente ein. Auch das Publikum selbst ist ja real. Wir essen, trinken, werden müde, waschen uns, vollführen Alltagshandlungen innerhalb eines fiktionalen Rahmens, der aber sehr konkret ist. Auch dieses Krankenhaus ist, wenn es fertig gebaut ist, vielleicht völlig anders als Krankenhäuser in der sogenannten Realität, aber das Ambiente ist so detailliert, dass es in einer anderen Zeit an einem anderen Ort real sein könnte. Eine Art ,Retro- Future‘.“ Köstler ist es dabei wichtig, dass sich das Publikum bewusst wird, manipuliert zu werden. „Vielleicht nicht sofort, spätestens aber, wenn es das Setting verlässt. Verführt und manipuliert, aber sich dessen bewusst. Das sind zwei Positionen im Betrachter, zwischen denen sich eine Spannung ergibt.“

In der Performance „Secret Girl“ in Meiningen 2004 stellt Sørensen eine Frau dar, die von zwei Männern gefangen gehalten und extrem brutal misshandelt wird. „Aber natürlich vermittelt das, dass noch viel schlimmere Gewalt im Hintergrund passiert. Und es erzeugt natürlich ein extrem ungutes Gefühl beim Zuschauer, der darüber nachdenken muss, wie er in einem solchen Fall reagieren würde, oder er reagiert sofort und vergisst den Rahmen, in dem er sich befindet.“ So kommt es mitunter auch zu echten Polizeieinsätzen. Ein Teenager stiehlt eine Spritze vom Set, seine Mutter findet diese und verständigt die Polizei, da ein Morphium-Etikett auf der Spritze angebracht ist. Gefälscht, versteht sich. Diese Situation kann rasch geklärt werden. Doch Illusion und Realität verschwimmen manchmal. In Meiningen besuchen auch Passanten die Installation, die gar nicht wissen, dass es sich um eine solche handelt. Oder ein Opernsänger, der als Schauspieler engagiert ist, beginnt nach 13 Stunden Dauereinsatz zu glauben, dass SIGNA das Festival, in dessen Rahmen sie auftreten, als Deckmantel benützen, um ihren Perversionen nachzugehen.

Darüber, wie sehr das eigene Spiel von einer Kontrollinstanz begleitet wird, ist das inzwischen verheiratete Künstlerpaar unterschiedlicher Auffassung. Für Köstler ist es wichtig, immer die völlige Kontrolle über das Geschehen zu bewahren. „Wir denken immer an die Performance und müssen ständig Ideen generieren und uns natürlich dessen bewusst sein, was wir und die anderen tun.“ Sørensen dagegen ist überrascht, wie sehr sie sogar nach Ende der Performance noch im Charakter verhaftet bleibt. „Ich dachte, das würde im Laufe der Jahre schwächer werden, wird es aber nicht. Nach ein paar Tagen vergesse ich, dass es da mich gibt und dort den anderen Charakter. Ich überlasse es Oberärztin Dorine Chaikin, den Überblick zu bewahren.“ Einig sind sich beide darüber, wie überraschend es immer wieder ist, dass man in der Lage ist, wie eine völlig fremde Person zu sprechen. „Als Oberärztin sage ich plötzlich Dinge, die ich nicht einmal denken würde, und, baff, kommen sie aus meinem Mund.“ Insofern ist die Arbeit von SIGNA auch so etwas wie eine Rückkehr in die Kindheit, als man noch Rollenspiele spielte und sich in Prinzessinnen und Ritter einzufühlen suchte. Besuchern bieten diese Situationen die Möglichkeit, einmal über alles reden zu können. Es drohen keine Konsequenzen, weil die Situation nicht echt ist.

Alle bisherigen Installationen haben sich stark mit dem Zuschauer auseinandergesetzt. Die Art, wie er sich durch den Raum bewegt, welche Entscheidungen er trifft, welche Konversationen er beginnt. Die „Komplex-Nord-Methode“, mit der SIGNA beim steirischen herbst zu Gast sind, tut dies aber bisher am konsequentesten. In ihr wird die Identität des Besuchers beim Eintritt in die Psychiatrie auf einen Nullpunkt zurückgesetzt. Seine Fassade, sein Titel, sein Aussehen werden gelöscht. Als Amnesiepatient verfügt er über keinerlei Erinnerung an sein bisheriges Leben, und erst im Laufe des Aufenthaltes erfährt er vom Betreuungspersonal seine Geschichte, eine neue, erfundene, und muss so erneut versuchen, sich selbst zu definieren. Ihm wird zwar gesagt, was er tun soll, es liegt aber an ihm selbst zu entscheiden, wohin und wie weit er geht.

Die nächste Station für SIGNA wird Köln sein. Mit einem völlig neuen Format, einem morbiden Spätachtziger-Promi- Nachtclub, der sich „Der Hades Faktor“ nennt. Eine weitere Form von vorübergehender Heimat, wie es auch Krankenhäuser, Dörfer oder Hotels sind. Und eine große Lagerhalle muss her, um die unzähligen Bühnenbildelemente und Requisiten, die sich über die Jahre angehäuft haben und über ganz Europa verstreut sind, unterzubringen.

Wenn Sørensen und Köstler einem gegenübersitzen, sie mit russischem Kopftuch und schwarzem, hochgeschlossenen Kleid, er mit schwarzem Lederkäppi und goldener Krawatte, vermitteln sie den Eindruck, dass man sich schon ewig kennt. Wie das so ist mit Menschen, die ständig mit anderen zu tun haben. Etwa bei herzlichen Gastgebern in Jugendherbergen. Gar nicht wie bei Krankenschwestern, die Röntgenaufnahmen machen und in tranceartigem Trott Anweisungen leiern: „Nicht atmen, bitteeeee.“ Nein, Sørensen und Köstler scheinen die Menschen nicht nur wahrzunehmen, sondern sogar zu mögen. Außergewöhnlich einladend.

 
 
   
 
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