"Wer in den Spiegel schaut und sich nicht sieht, ist ein Vampir." Jack Debris
Jorge Luis Borges erzählt von einem lange schon untergegangenen Reich, in dem die Kunst der Kartographie eine solche Vollkommenheit erlangt hatte, dass dort die Karte einer einzigen Provinz den Raum einer ganzen Stadt einnahm, und die Karte des Reiches den Raum einer ganzen Provinz. Doch die Kartographen gingen noch weiter: Am Schluss gelang es ihnen, eine Karte des Reiches zu erstellen, die exakt dessen Größe hatte und sich mit ihm in jedem Punkt deckte. Leider verloren die nachfolgenden Generationen, so geht die Geschichte weiter, daraufhin das Interesse an der Kartographie und ließen die riesige Karte verfallen, die sie als nutzlos betrachteten. In den Wüsten des Westens, schließt Borges, hätten sich bis heute zerstückelte Ruinen der Karte erhalten, von Tieren behaust und von Bettlern; die geographischen Lehrwissenschaften aber seien dort eingegangen.
Nun ist schwer vorstellbar, wie die Arbeit an der Karte ausgesehen haben soll – wenn man hier denn überhaupt noch sinnvoll von einer Karte sprechen kann, denn der tautologische Maßstab „Eins zu eins“ ist so maß- wie maßstabslos und widerspricht ihrem Begriff per definitionem. Vielleicht handelt es sich eher um eine Kopie des Oberflächenbildes? Befremdlich auch das Bild der Ruinen, als habe es sich um ein Bauwerk gehandelt, um ein Kartenhaus im buchstäblichen Sinn, und nicht, wie man denken sollte, um einen gigantischen Bogen Papier oder ein Textil. Vollends absurd erscheint die Arbeit, denkt man den Aspekt der Zeit hinzu: Wie soll das sich stündlich, minütlich, sekündlich verändernde Oberflächenbild des Landes in diese Karte passen; es sei denn, die Kartographen würden ihr Werk permanent aktualisieren und sich dazu, wie körperlose Götter, gleichzeitig und ständig an jedem Punkt der Karte bzw. des Reiches befinden? Und andererseits: Wie sind Arbeiten an einer totalen Karte denkbar, die den Ort, an dem sie stattfinden, nicht selbst verändern und sich also im Möbiusband einer unendlichen Rückkopplung verfangen und beständig selbst abbilden müssen? Im Moment der Deckungsgleichheit von Ding und Karte, so könnte man folgern, wird das Ding endgültig ununterscheidbar von der Karte.
Trotz solcher Paradoxien: Die unheimliche Geschichte führt geradewegs in die nicht minder unheimliche Welt des Performance-Duos „SIGNA“; man muss sie nur um einen kleinen Dreh fortspinnen und sich ein wucherndes Kartengebilde denken, das sich von vornherein auf sich selbst und damit auf gar keine äußere Realität mehr bezieht, ein Abbild ohne jedes Vor- oder Urbild. Seit 2001 installieren „SIGNA“, die sich aus der Dänin Signa Sørensen und dem Österreicher Arthur Köstler zusammensetzen, in leerstehenden Hallen, Depots und Fabriken ihre eigentümlichen Gebilde, die so begeh- und sogar behausbar sind wie Borges’ Kartenruinen. Bislang viermal haben sie auch in Deutschland ihre zum Teil über hundert Stunden dauernden Non-Stop-Installationen errichtet, zuerst in einem ehemaligen Männergefängnis in Meiningen und in einer Lagerhalle beim Bremer Bahnhof. 2007 verwandelten sie dann das Berliner „Ballhaus Ost“ für zwei Wochen in die Krankenstation des „Dorine Chaikin Institute“, und mit den „Erscheinungen der Martha Rubin“ bauten sie in die Kölner Halle Kalk gar eine ganze Lagerstadt hinein, in der man mehrere Tage verbringen und bis zu dreimal am Stück übernachten konnte. Diese „Ruby Town“ wurde dann auch prompt zum Berliner Theatertreffen eingeladen, wo sie nun ganze neun (!) Tage lang besuchbar sein wird.
Über vierzig Darsteller bevölkern die Modellstadt, wohnen und schlafen in Bretterbuden und Wohnwagen und arbeiten in ihren Geschäften und Einrichtungen – einem Bonbonladen etwa, einem Cafe, einer Schnapsbar, einem Friseursalon und sogar einer Peepshow. Dabei ist der Alltag, der sich hier nach einiger Zeit unweigerlich einstellt, äußerst fragil und bedroht, obwohl er gerade in der Bedrohung seine gemütlichen Stellen hat. Überaus schäbig und ärmlich wirken schon die Unterkünfte der irgendwie osteuropäisch oder russisch anmutenden Siedlung, überall blättern kitschige rosa Blümchentapeten ab, eine improvisierte, vielleicht aus Not gegründete Stadt, die zudem unter Totalüberwachung steht. Denn fremde Soldatentruppen sichern die Grenzen des Ortes, der im Niemandsland zwischen ominösen Nord- und Südstaaten liegt, patrouillieren durch die Straßen und kontrollieren Hütten, Bewohner wie Besucher, jederzeit bereit einzugreifen. Bisweilen verschwinden, wie man erfährt, Menschen aus der Stadt, ohne dass man Näheres wüsste; auch sonst entfalten sich hier und da mysteriöse oder auch weniger mysteriöse Geschichten, deren Fetzen man mitbekommt oder notgedrungen selbst mitgestaltet. Gespenstisch ist auch der Gründungsmythos des Ortes, der eine Gemeinschaft konstituiert, in die man sich als Besucher niemals ganz einzufügen vermag, selbst nach einigen Tagen Aufenthalt: Die „Rubys“ leiten sich her von Martha Rubin, einer Frau, die angeblich mit Orakelfähigkeiten ausgestattet war. Im Jahr 1913 verschwunden, tauchte sie vor kurzem wieder auf und liegt nun in einem Turmgebäude der Stadt, das den zentralen Ort der Siedlung darstellt. Die Einwohner verehren diese Orakelfrau (übrigens von Sørensen selbst gespielt, die auch hier ihrem Namen „Signa“ – Zeichen – alle Ehre macht), von der sie ihre Ursprungserzählung ableiten. Als Besucher wird man durchaus freundlich empfangen, aber letzten Endes bleibt man gegenüber der inneren Gemeinschaft dieser Nachfahren doch ein hoffnungsloser Fremder.
Schon alleine deswegen ist die Atmosphäre „Ruby Towns“ bisweilen schwer auszuhalten, das Gefühl stellt sich ein, vor einer totalen Katastrophe zu stehen – oder vielleicht auch mittendrin, nur dass man es nicht bemerkt, getröstet durch den Genuss von „Pferd- und Weiberfleisch, Whisky und Pokertisch“ (wie es über die Netzestadt „Mahagonny“ heißt, eine Verwandte „Ruby Towns“). Und man fragt sich, was die Jury des Theatertreffens in Köln eigentlich erlebt hat, wenn sie die „Wärme“ der Arbeit preist. Denn durch Wärme zeichnet sich keine von „SIGNAs“ Installationen aus, eher durch ein bedrückendes, ausgeklügeltes Spiel an den Grenzen von Macht, Rausch, Wahnsinn, Gewalt und Begehren. Das „Dorine Chaikin Institute“ zu besuchen, bedeutete beispielsweise, sich als Patient einzuweisen und sich für eine Nacht hoffnungslos einem Regime aus Ärzten, Pflegern und Krankenschwestern zu überlassen. Nicht selten stand man dabei vor der Selbstaufgabe, denn es handelte sich um eine Amnesiestation: Alles was man von außerhalb zu erzählen versuchte oder was den Regeln des Ortes zu widersprechen drohte, konnte auf zelebrale Fehlfunktionen geschoben werden. Oder das „Black Rose Trick Hotel“ in Malmö, in das man sich wie in ein richtiges Hotel mit Speisesaal und Bar bis zu zehn Tage einmieten konnte. Von vornherein war das ein „Grand Hotel Abgrund“, ein Alptraumort, dessen Titulierung als „sicherster Ort der Erde“ wieder einmal die unvermeidliche Ordnungsmacht einer militärischen Einheit zu garantieren hatte und in dem dann doch seltsame, ansteckende Krankheiten grassierten. Es sind Orte, die sich auf eine grundsätzliche Verfehlung gründen, Orte, an denen, wenn schon keine Lüge, so doch mindestens eine anfängliche Unwahrheit zur Ordnung erhoben wird.
Noch schlechter als um die Wärme dürfte es freilich um die „Unmittelbarkeit“ stehen, die andere zweifelhafte Qualität, die die Berliner Jury der Arbeit des Duos unterstellt. Eher müsste man angesichts der Modellhaftigkeit der Installationen vom Gegenteil reden. Wer oder was auch immer nach „Ruby Town“ kommt, taucht in das Zwielicht einer nicht zu hintergehenden „Mittelbarkeit“, der zu stellen man sich im Alltag jenseits der Lagerstadt immer wieder gerne weigert. Oder, um das Bild der Karte wieder aufzugreifen: Der Besucher ist hier Bestandteil einer sich in alle Richtungen und Dimensionen entfaltenden, totalen Karte und wird darüber selbst kartenhaft, ohne dass sich ein Original angeben ließe. Nicht umsonst erinnert das auch an „Dogville“, neben und nach „Mahagonny“ die andere wichtige Partnerstadt „Ruby Towns“, deren zugleich kartographische wie unverkleinerte Draufsicht Lars von Trier im gleichnamigen Film auf den Boden einer Studiohalle zeichnen ließ, um dort allmählich aus der Normalität der Tagesabläufe den Gewaltexzess herauswachsen zu lassen. Überhaupt: Ähnlich wie von Trier ver-wenden „SIGNA“ mit und an ihren Darstellern die traditionellen Techniken des bürgerlichen Schauspiels – Einfühlung und Verkörperung – um damit zu etwas ganz anderem zu kommen. Das ist möglich, weil der Typus des Einfühlungsdarstellers so sehr den totalen Kartographen aus Borges’ Geschichte ähnelt; so fordert etwa eine Übung Stanislawskis vom Darsteller, seiner „Figur“ eine so detaillierte Rollenbiographie auszuarbeiten, dass sich ihre Handlungen und deren Motivationen für jeden einzelnen Zeitpunkt bestimmen und erklären lassen, sogar noch für jene Momente und Zeitspannen, die zwischen ihren Auf- und Abtritten liegen. Einer der großen Trugschlüsse dieser Technik besteht freilich in der Annahme, von diesem möglichst vollständigen Außenbild einer „Figur“ ließe sich in ihr Inneres vordringen, Innen und Außen würden sich wechselseitig und vollständig ineinander ausdrücken und übersetzen (lassen). Ganze Berufszweige des bürgerlichen Theaters richten sich darauf, den Abgrund zwischen Innenraum und Oberfläche zu verbergen – der Bühnenbildner trägt diese Aufgabe schon im Namen – aber der Schauspieler bewohnt ihn. Wenn er einen Weinenden spielen soll, muss er dann wirkliche Trauer fühlen, um weinen zu können? Und wie verträgt sich das mit dem kalten, kontrollierenden Verstand, den er braucht, um das möglichst effektvolle Bild eines Weinenden zu zeichnen? Seit der Erfindung des Schauspielers im 18. Jahrhundert ist diese Spaltung, die nahe beim Wahnsinn liegt, immer wieder beschrieben worden.
„SIGNA“ tragen diese Spaltung in den Zuschauer bzw. Besucher selbst und überlassen ihn dann grausamerweise solchen Zuständen, die an den Grenzen des Kontrollierbaren spielen – Schlaf, Alkohol, Sex, (Ohn-)macht. Man ist nicht man selbst, aber auch nicht jemand anderes, ein Zwischending von Körper und Bild; diese so lustvolle wie schreckliche Erfahrung wird in ihren Kunstwelten konzentriert und auf Dauer gestellt. Und sie springt über und erstreckt sich noch auf die banalsten Gegenstände: Alles, was man in „Ruby Town“ berührt, bekommt einen Bodensatz von Nichtigkeit, schmeckt an irgendeiner Stelle nach Papier, entleert sich. Selbst der Wodka, zu dem man hier eingeladen wird, entpuppt sich irgendwann als amorphes Gebilde, verwandelt sich in eine gallertartige, fremde Masse. Auf die Spitze wird der Schock dabei durch den Hypernaturalismus dieser Kunstnatur getrieben, die bis ins kleinste Detail so liebevoll wie akribisch durchgebildet und doch immer ein völlig unwirkliches Modell ist, zu dem man selbst gehört. Mir selbst erging es in „Ruby Town“ so: Einmal schlich ich mich in die Militärstation am Rand der Stadt, um dort heimlich in den Archivkisten zu kramen. Für einen Moment lang fühlte ich mich dabei unbeobachtet, gewissermaßen bei mir selbst, bis ich sah, wie hier auf zig Karteikarten noch die täglichen Lebensmittelrationen bis auf Nachkommastellen verzeichnet waren. Angesichts der totalen Durchformung noch im Kleinsten, Unwichtigsten tauchte schockartig das Gefühl auf, noch das eigene Unbeobachtetsein gehöre zum Modell, sei eingeplant von einer anonymen Instanz; das Gefühl, ein gleichermaßen unbeschriebenes wie völlig beschriebenes Blatt in einem abgekarteten Spiel zu sein. Es ist ein Schock, der jenem ähnelt, den Kafkas durch und durch naturalistische Beschreibungen einer durch und durch unerklärlichen Welt in „Prozess“ und „Schloss“ auslösen können.
Bleibt die Frage, wie das alles sich zur Außenwelt verhält, zur Nicht-Ruby-Town. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass auch dort irgendetwas an Borges’ Katastrophenvision einer totalen Abbildung unheimlich vertraut wirkt. Erinnert sie nicht an das heute unüberschaubare Heer von Bild- und Speichermaschinen, die den Alltag permanent begleiten, scannen und vermessen, seine Oberflächenbewegungen möglichst simultan und bis in die intimsten Winkel auf- und abzeichnen wollen und diese dabei natürlich in kaum zu bestimmender Weise beeinflussen? Wobei man häufig nicht einmal weiß, ob all diese Aufzeichnungen überhaupt noch irgendwann irgendwo von irgendwem angesehen werden, oder ob sie nicht einfach so subjekt- wie nutzloser Datenmüll sind. Vielleicht ist es ja kein Zufall, dass der Begriff der Karte dabei eine so große Rolle spielt, wenngleich die eine große Karte transformiert scheint in Milliarden winziger Sound- SIM- und alle Arten anderer Speicherkarten.
Immer wieder hat sich angesichts dessen in diversen Simulationstheorien der (unterschiedlich intelligent vorgetragene) Verdacht geäußert, die Welt verschmelze und verlösche heute endgültig in ihrem eigenen Außenbild. Immer lückenloser und unbeherrschbarer scheint jedenfalls eine Tendenz, die dahin geht, Dinge und Körper unter der Oberfläche der Bilder einzuschließen. Wobei – das wäre deutlich zu behaupten – eine totale Überlagerung der Welt durch ihr Außenbild als körperlose „Simulation“ ebenso unmöglich wäre wie ihr Gegenteil, die „reine“, von allen Abbildern gereinigte Welt. Ohne abstrahierende Karten geht es nun einmal nicht.
Ein Besuch bei „SIGNA“ lässt die Außenwelt hinterher als unwirklicher erscheinen. Wie schnell man auch wieder an ihr Zusammenhalten und ihre Wirklichkeit glauben möchte – der Papiergeschmack des Wodkas oder die Modellhaftigkeit des eigenen Körpers lassen sich auch jenseits von „Ruby Town“ nicht so leicht abstellen und vergessen. Das unterscheidet „Signa“ zumindest tendenziell von anderen Simulationsspielen und virtuellen Abenteuerwelten, vom Live-Rollenspiel bis zum „Second Life“ im Internet, die häufig bloß darauf zielen, den Alltag zu stabilisieren und als wirklich zu behaupten, vor allem, wo sie vorrangig auf „realen“ Profit zielen. Oder auch von den Lagern des Traumkitsches à la Disney. „Disneyland wird als Imaginäres hingestellt, um den Anschein zu erwecken, alles übrige sei real“, schrieb Jean Baudrillard schon 1980. Im Gegensatz dazu schärfen „SIGNAs“ Installationen den Sinn für die Wirklichkeit – und zwar indem sie den Unwirklichkeitssinn schärfen.